„Wir können eine Revolution ausrufen“

Tunesien hat den Umbruch von der Diktatur zur Demokratie geschafft. Tahar Berberi war hautnah dabei: mit dem Gewerkschaftsbund UGTT, der nun den Friedensnobelpreis erhalten hat.  Im Interview erklärt er, warum das tunesiche Wunder nur dank starker Gewerkschaften möglich war - und warum er mit der IG Metall zusammenarbeitet.

Tahar Berberi, Du warst mit dem tunesischen Gewerkschaftsbund UGTT schon 2014 für den Friedensnobelpreis nominiert. Jetzt habt ihr ihn gewonnen. Wie habt ihr die Entscheidung erlebt?

Tahar Berberi: Dass wir letztes Jahr nicht gewonnen haben, hat uns schockiert. Diesmal haben wir unsere Kandidatur sehr diskret behandelt, damit wir nicht wieder enttäuscht werden. Als dann die Nachricht über den Preis kam, wollten sofort alle wissen, was wir zu sagen haben. Unsere Antwort: Dieser Preis ist eine Auszeichnung für alle Tunesier, ein Zeichen für unser Vertrauen in die Zukunft.

ZUR PERSON: Tahar Berberi ist Vorsitzender der Fédération générale métallurgie et d’électronique (FGME), der Metallsparte des tuneischen Gewerkschaftsbunds UGTT.

Die UGTT kann in Tunesien auf ihr hohes Ansehen bauen - ihr Gründer hat die Befreiung von der französischen Kolonialherrschaft angeführt. Trotzdem war die Vermittlung zwischen islamistischen und säkularen Gruppen heikel. Wie seid ihr vorgegangen?

Berberi: Der arabische Frühling hat alle Gesellschaften im arabischen Raum durcheinander gewirbelt. Tunesien stand vor dem Unbekannten. Es gab eine Phase des Terrors mit politischen Morden. Die UGTT hat alle politischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen zum Dialog aufgerufen und gesagt: Wir müssen einen Konsens herstellen! Wir brauchen eine Verfassungsversammlung und eine Roadmap zur Demokratisierung. Und wir haben tatsächlich alle Parteien an einen Tisch bekommen, auch die gemäßigte islamistische Ennahda-Partei. Und warum? Weil alle wussten, dass wir durch unsere Mobilisierungsfähigkeit sonst eine neue Revolution hätten ausrufen können.

Warum hat es in Tunesien geklappt, während andere arabische Länder in Gewalt versinken?

Berberi: Wenn fremde Mächte intervenieren, kann es keinen Dialog und keine Freiheit geben. Beispiel Syrien: Das Volk wünscht sich eine demokratische Entwicklung. Aber es geht schon lange nicht mehr darum, was das Volk will. Hier mischen einfach zu viele mit, auch die Amerikaner und die Russen.

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Tahar Berberi beim Interview während des IG Metall-Gewerkschaftstags 2015.

Was ist mit Ägypten?

Berberi: In Ägypten ist die Situation komplex, weil dort das Militär herrscht. Bei der Parlamentswahl zu Wochenbeginn war die Beteiligung extrem gering. In Ägypten heißt es jetzt: Es wird Zeit für einen Dialog nach dem Vorbild der Tunesier. Aber dort gibt es weder starke, unabhängige Gewerkschaften noch andere schlagkräftige Akteure der Zivilgesellschaft.

Wird euer Nobelpreis die Demokratisierung in anderen arabischen Staaten anschieben?

Berberi: Der Preis wird Rückenwind geben. Überall wird nun gesagt und geschrieben, dass Tunesien ein gelungenes Beispiel für Demokratisierung ist. Auch in Libyen gibt es mittlerweile einen nationalen Dialog. Dort sind wir als Berater gefragt.

Trotz der internationalen Anerkennung haben es Gewerkschaften in Tunesien schwer: Die Rechte von Arbeitern werden verletzt, Gewerkschafter schikaniert oder entlassen. Doch im nationalen Dialog-Quartett habt ihr erfolgreich mit den Arbeitgebern kooperiert. Wie passt das zusammen?

Berberi: Es gibt einen Unterschied zwischen der politischen und der betrieblichen Ebene. Auf der politischen haben die Arbeitgeber einen Dialog mit uns geführt, das war ein Etappensieg. In den Betrieben verweigern sie oft die Verhandlung. Obwohl sie sogar zugeben, dass die Arbeitsbedingungen vielerorts nicht gut sind. Im Januar 2012 haben die Arbeitgeber einen Sozialpakt gemeinsam mit Gewerkschaften und Regierung unterschrieben, der zurzeit dem Parlament zur Ratifizierung vorliegt. Ich hoffe, dass dieser Pakt endlich zu einer Kultur der Verhandlungen und der Zusammenarbeit führt.

Seit 2013 arbeitet ihr mit der IG Metall zusammen. Im Fokus stehen deutsche Automobilzulieferer wie Leoni oder Dräxlmaier, die auch in Tunesien produzieren. Was habt ihr erreicht?

Berberi: Ich gebe zu: Am Anfang haben wir gedacht, dass man mit den Deutschen nur schwer zusammenarbeiten kann - weil die Kulturen so verschieden sind. Aber mittlerweile hat sich herausgestellt: Wir haben die gleichen Sorgen und die gleichen Ziele. Dank der Kooperation haben wir schon 150 Gewerkschaftskollegen in den Betrieben geschult. Auch bei den tunesischen Ablegern deutscher Unternehmen hilft uns die Zusammenarbeit mit der IG Metall.

Wie genau?

Berberi: Zum Beispiel so wie bei Dräxlmaier: Dort konnten wir vernünftige Arbeitsbeziehungen mit der Unternehmensspitze aufbauen. Dieses Jahr hat uns auch die Geschäftsleitung in Deutschland empfangen und sich offen gezeigt, das Unternehmen in Tunesien gemeinsam voranzubringen. Das ist ein Novum. Bei Leoni hat zwar die Zentrale in Deutschland eine Zusammenarbeit mit uns akzeptiert, die Geschäftsführung in Tunesien lähmt aber weiterhin die Gewerkschaftsarbeit, indem sie Druck ausübt oder Gewerkschafter entlässt. Dort gilt es noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten.

Wo läuft es am besten?

Berberi: Am Erfolgreichsten sind wir beim Kabelhersteller Kromberg & Schubert. Die tunesische Niederlassung stand kurz vor der Schließung. Wir haben gemeinsam einen Rettungsplan erarbeitet, der nun umgesetzt wird. Die Zusammenarbeit mit der Geschäftsleitung läuft inzwischen gut. Die Produktivität steigt und dadurch gibt es einen neuen Auftrag, der zusätzliche Arbeitsplätze bringt.